Ich muss 13 oder 14 gewesen sein, als sich mein Vater seinen ersten CD-Spieler kaufte und mit ihm die CD „West Side Story“, eine Aufnahme der Deutschen Grammophon mit José Carreras und Kiri te Kanawa. Auch wenn mich damals die neue Technik mehr interessierte als das Musical, so war es doch meine erste bewusste Begegnung mit Leonard Bernstein und einige der „Hits“ wie „America“ und „Tonight“ kamen mir sogar bekannt vor. Erst ein paar Jahre später sah ich die Verfilmung der West Side Story von 1961 im Fernsehen. Und auch wenn Straßengangs, die Ballettschritte vollführen, in den 80ern schon eine gewisse unfreiwillige Komik mit sich brachten, so hat mich diese moderne Romeo-und-Julia-Geschichte in ihren Bann gezogen – nicht zuletzt wegen der mitreißenden Musik. Ein klassischer Star-Dirigent, der solche Musik komponierte – orchestral, aber mit Elementen aus Jazz und Latin, mit Ohrwurmqualität und Fußwippeffekt – das nötigte dem adoleszenten Ohrenblicker eine gehörige Portion Respekt ab, den Typen musste ich näher kennenlernen!
Ich sah mir Aufzeichnungen von Sinfoniekonzerten im dritten Programm an, vor allem die Mahler-Sinfonien, gespielt von den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Leonard Bernstein. Ich konnte mit Mahlers Musik damals nicht so viel anfangen, aber ich wollte diesen Mann sehen, der da am Dirigentenpult stand und nicht nur mit dem Taktstock, sondern mit seinem ganzen Körper dirigierte, der jede einzelne Note zelebrierte, als wolle er den Liebesakt mit ihr vollführen. Man hätte den Ton abstellen können, es wäre immer noch spannender gewesen als alle Folgen von Magnum und dem A-Team zusammen. Da stand ein Mann am Pult, der seine Arbeit nicht nur liebte, sondern mit ihr verschmolz.
Neben seiner Tätigkeit als Dirigent komponierte er diverse Orchesterwerke, eine Filmmusik und Musicals, die aber alle nicht den Ruhm seiner West Side Story ernten sollten. Auch seine Fähigkeiten als Pianist waren beeindruckend, an seiner Interpretation der Rhapsodie in Blue hätte Gershwin seine helle Freude gehabt. Aber es reichte ihm nicht, nur ein Musikgenie zu sein, er wollte seine Begeisterung für die Musik und sein Wissen den Menschen weitergeben. Seine Young People’s Concerts, in denen er Kindern die klassische Musik auf unterhaltsame und spannende Art und Weise nahebrachte, sollte sich jeder Musiklehrer zum Vorbild nehmen.
Auch wenn Bernstein sicherlich zu den größten Musikern des 20. Jahrhunderts zählen dürfte, wird er in der deutschen Medienlandschaft nur am Rande behandelt. Vielleicht auch deshalb, weil in Deutschland, wo man Musik immer noch so verbissen in E und U unterteilt, keine Schublade für ihn existiert, in die man ihn stecken könnte: Ein Dirigent, der sich humoristisch mit Verdi und Wagner auseinandersetzt, ein „klassischer“ Komponist, der vom Jazz als Kunstform redet, der sogar Broadway-Musik komponiert, der passt nicht in das Schema des elitären deutschen Kulturdünkels. Für eine Pop-Ikone fehlt ihm wiederum das Schrille.
Sein größtes Drama war jedoch wohl sein Privatleben. Seine Frau Felicia Montealegre, die er wegen eines Mannes verlassen hatte, erkrankte an Lungenkrebs. Bernstein gab sich die Schuld an ihrer Erkrankung, kehrte zu ihr zurück und pflegte sie bis zu ihrem Tod – eine Geschichte, die wohl ebenso tragisch ist wie die von Maria und Tony aus der West Side Story.
Vor genau 20 Jahren, am 14. Oktober 1990 starb Leonard Bernstein an den Folgen eines Herzinfarkts.